Borsigplatz Geschmacksarchiv – Preopening
In Kooperation mit der Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft / Public Residence: Die Chance
Konzept und Produktion
Angela Ljiljanic
Realisation: Die Bewohner-/innen des Borsigplatzes
Projektbegleitende Beratung: Gemüsewerft
Das Borsigplatzgeschmacksarchiv – Preopeningphase ( 6 Monate), every single day – auch Sonntags!
Wie und wonach schmecken der Borsigplatz und die umliegende Dortmunder Nordstadt, in der 132 Nationalitäten beheimatet sind? Ein Geschmacksfeld, das viele Gewürze, Essgewohnheiten und Rezepte aus aller Herren Länder vereint. Die Anwohner des Borsigplatzes bauen Hochbeete, pflanzen die von ihnen ausgesuchten Kräuter und Stauden, behalten die eine Hälfte für ihre Alltagsküche und geben die andere Hälfte für eine experimentelle Küche frei, die dem typischen Borsiggeschmack auf die Schliche kommen will und in einer herzhaften Speise seinen Audruck finden soll.
Von der Industriepflanze Borsigplatz zum Borsigplatz Geschmacksarchiv
Während am helligten Tage ein selbst angesetzter Fruchtlikör der Künstlerin zum Wohle gereicht wurde und gefüllte Weinblätter (auf griechische Art) zeitweise das Gespräch dominierten, gab die gastgebende Bevölkerung Ljiljanic „per Du“ Aufschluss über die historische und strukturelle Gesamtentwicklung im Quartier. Von den Folgen brachliegender Großindustrie war Rede. Menschen, die sich aus ihren tradierten Produktionsprozessen herausgedrängt sehen und Neuzuwanderer, die die erhofften Lebens- und Arbeitsbedingungen nicht vorfinden prägten, neben der fußläufig gut zu erreichenden Nahversorgung und gruppenunspezifischen Caféhauskultur, die Wünsche an das konkrete Handeln innerhalb und außerhalb der Kunst. Trotz Beschwerdechor – Ljiljanic hörte schnell heraus; die Menschen fühlen sich mit ihrem herausfordernden Lebensumfeld aufs Engste verbunden. Das Leben am Borsigplatz ist an manchen Stellen kein Zuckerschlecken und doch eine Manufaktur für Heimatliebe. Von wallnussgefüllter Baklava, eingelegtem Gewürzgemüse, feurig-scharfer Paprika-Sauce und milden Pfefferonen, die probierbereit aus den Vorratskammern der Privathaushalte hervorgeholt wurden, war der Weg zum gemeinsamen künstlerischen Ansinnen nicht mehr weit. Kurzum, Ljiljanic machte die zusammengetragenen Speisen und Nöte der Anwohner zur gemeinsamen Tugend und rief das Borsigplatz Geschmacksarchiv aus.
Der kulinarische Straßenatlas wird zur einer Art Schwelle, die ein Überschreiten zwischen Kunst und Alltag möglich macht. Die von Ljiljanic als „Kommunikationsplattformen“ bezeichneten Hochbeete nahmen im Rahmen ihrer Residence, eine sehr zentrale Rolle für die Interaktion der Anwohner ein. Ljiljanic findet in der Nachbarschaft am Borsigplatz so den Zugang zu den eigeschworenen Innenhofgemeinschaften, verriegelten Hinterhöfen und den dahinter liegenden Wohnungen und Küchen, erforscht und erprobt in den Versammlungsräumen des Alltags, die Möglichkeiten sozialdynamischer Verhandlungsräume für Kunst und Selbstermächtigung – fernab von Institutionen und Musealisierung.
Ljiljanic nimmt im gesamten Prozess Kommunikationsvorgänge bei den Anwohnern mit den unterschiedlichsten Resultaten wahr – oszillierend zwischen Emanzipation, Kooperation und Aufstand. So gab es einerseits Anwohner, die, so beobachtete es Ljiljanic, ihr einen Gefallen tun wollten in der Pflege und Errichtung der Beete oder auch eben nicht und diese nach anfänglicher Begeisterung demonstrativ vernachlässigten. Für die vernachlässigten Hochbeete richtete sie eine Warteliste ein, in der sich alle weiteren interessierten Anwohner für eine Patenschaft eintragen konnten, um eine kunstbedingte Versetzung zu beantragen. Diese lies dann im gesetzten Fall nie lange auf sich warten. Die Mehrheit jedoch sah die Chance, etwas Eigenes auf die Beine zu stellen und nahm dies zum Anlass, die Tore zu den Hinterhöfen zu öffnen, Werkzeug und Material aus den Kellern hervorzuholen, heimisches Saatgut zu produzieren, Generations- und Straßenübergreifend Pläne zu schmieden.
Offiziell gab es in den Hinterhöfen neun und außerhalb der Höfe 11 frei zugängliche Hochbeete, die die Anwohner anlegten. Wie hoch die genaue Dunkelziffer ist, weiß die Künstlerin nicht. Einige Anwohner begutachteten im Vorbeigehen und scheinbar desinteressiert die recht ansehnlichen Hochbeete. Doch als Herr W. wie gewohnt, Apfel- und Melonenkisten vom benachbarten Gemüsehändler abholen will, bekommt er mitgeteilt, dass, seit dem das Borsigplatz – Geschmacksarchiv die Runde mache, nun viele ,heimlich‘ bei ihm Holz abholen, um nach gesehenem Vorbild ,eigene‘, kunstferne Hochbeete zu bauen und er kein Holz mehr vorrätig hätte. Ljiljanic machte sich nicht etwa auf die Suche nach den Hochbetten, sondern gab den Schaulustigen und scheinbar Desinteressierten ganz genaue Auskunft über den Bau der Hochbeete: Eine Bauanleitung, getarnt als Smalltalk!
Publikationsbeitrag: Angela Ljiljanic & Teresa Grünhage „Zwischen Anspruch und Wirklichkeit“
(Hg): Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft / ISBN 978-3-00-052296-3